Künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin: ein Thema, das polarisiert und neben hohen Erwartungen manchmal auch diffuse Ängste weckt. Dabei hat die digitale Transformation – und mit ihr die Nutzung von Big Data und KI – unbemerkt bereits in vielen Bereichen unseres Lebens Einzug gehalten: Wir nutzen intelligente Sprachsteuerung auf unseren Smartphones und erhalten von Fitnesstrackern personalisierte Trainingsvorschläge. Gerade die Medizin ist mit ihrem hohen Komplexitätsgrad und den immer gewaltigeren Datenmengen wie gemacht für den Einsatz künstlicher Intelligenz. Über deren Chancen und Risiken kursieren viele Mythen, die jedoch nicht immer einer Realitätsprüfung standhalten.

Was ist künstliche Intelligenz (KI)?

Eine eindeutige und präzise Definition von Künstlicher Intelligenz (KI), im Englischen Artificial Intelligence (AI) genannt, ist schon deshalb schwierig, weil sich die Wissenschaft über die Definition menschlicher Intelligenz nicht einig ist. Üblicherweise versteht man unter KI die Fähigkeit von Maschinen, Aufgaben zu übernehmen und Entscheidungen auf eine Weise zu treffen, die menschliches Verhalten simuliert.

Der Begriff KI bezeichnet dabei keine einzelne Technologie, sondern umfasst verschiedene Verfahren und Methoden. Ein wichtiges Teilgebiet ist das sogenannte Machine Learning (ML): Mithilfe von Algorithmen werden aus vorhandenen Datensätzen Gesetzmäßigkeiten und Muster abgeleitet, um diese später auf unbekannte Datensätze anzuwenden. Greift man dabei auf künstliche neuronale Netzwerke mit vielen Schichten zurück, so spricht man von Deep Learning.

Was bedeutet KI für die Medizin?

Mit der digitalen Transformation haben sich die Methoden und Abläufe in der Medizin in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt: Längst werden Röntgenbilder nicht mehr in der Dunkelkammer entwickelt oder Zellkulturen unter dem Mikroskop ausgezählt. Viele dieser früher sehr zeitaufwendigen manuellen Tätigkeiten erledigen Computerprogramme wesentlich effizienter und meist auch zuverlässiger als Menschen.

Heute steht die Medizin vor einer weiteren Transformation, bei der KI unterstützen kann. Im Gesundheitswesen fallen durch 3D-Bildgebung, biometrische Daten, Genomsequenzen etc. immer gewaltigere Datenmengen an. Diese bergen ein großes Potenzial, das sich mit den herkömmlichen Methoden der Datenverarbeitung aber nicht immer ausschöpfen lässt. KI-Anwendungen hingegen können auch große und komplexe Datensätze effektiv verwalten, analysieren und im Optimalfall neues Wissen daraus generieren, um so die medizinische Versorgung weiter zu verbessern.

Wo wird KI in der Medizin eingesetzt?

Die Anwendungsmöglichkeiten von KI in der Medizin sind vielfältig und umfassen u.a. diese Bereiche:

Diagnostik

Besonders groß ist das Anwendungspotenzial von KI in der Medizin im Bereich der bildgebenden Diagnostik, da die Grunddaten hier bereits in digitalisierter Form vorliegen. Mithilfe von Deep Learning lassen sich KI-Systeme trainieren, um später selbstständig diagnostische Entscheidungen zu treffen. So sind KI-Anwendungen schon jetzt in der Lage, Tuberkulose auf Röntgenthorax-Bildern mit hoher Sensitivität und Spezifität zu erkennen. Die Bestimmung des Knochenalters in der Kinderradiologie ist ein weiterer Bereich, in dem KI-Lösungen die Genauigkeit verbessern und zugleich die Zeit für die Befundung verkürzen.

Medikamenten-Entwicklung

Die Entwicklung neuer Arzneimittel ist normalerweise ein zeitaufwendiges und teures Unterfangen. Viele der dafür nötigen Teilschritte lassen sich mithilfe von medizinischen KI-Anwendungen deutlich beschleunigen, wie etwa:

  • das Identifizieren geeigneter Interventionsziele auf molekularer Ebene
  • die Analyse potenzieller Wirkstoffe in Hinblick auf ihre biochemischen Eigenschaften
  • die Identifizierung und Gruppierung geeigneter Testpersonen in klinischen Studien

Personalisierung von Therapien

Nicht alle PatientInnen reagieren auf Medikamente und Therapien gleich. Wenn geeignete Datensätze vorliegen, könnten KI-Systeme durch den Abgleich von früheren Behandlungen und deren Ergebnissen Voraussagen treffen, wie ein Patient oder eine Patientin auf eine bestimmte Behandlung anspricht. Dadurch ermöglicht KI in der Medizin maßgeschneiderte Therapien mit besseren Ergebnissen und geringeren Nebenwirkungen.

Verbesserung der Früherkennung

Ein großes Potenzial von KI-Systemen liegt darin, durch die Verknüpfung verschiedener Datenbestände personalisierte Voraussagen zu treffen. Dadurch lassen sich individuelle Krankheitsrisiken frühzeitiger erkennen, um anschließend gezielt gegenzusteuern.

Einfachere Genom-Analyse und -Editierung

KI-Anwendungen in der Medizin könnten unser Wissen über die Zusammenhänge zwischen Mustern im Genom und der Neigung zu bestimmten Erkrankungen vertiefen. Denn die Zusammenhänge sind nicht immer linear, aufgrund der Datenmengen stoßen herkömmliche statistische Verfahren aber an ihre Grenzen.

Darüber hinaus kann Künstliche Intelligenz die Genauigkeit des Genome Editing mit der CRISPR-Methode verbessern, indem intelligente Algorithmen beispielsweise die Auswahl geeigneter Gen-Zielregionen erleichtern.

Roboterassistierte Chirurgie

Bereits heute assistieren intelligente chirurgische Instrumente zusammen mit hochauflösenden 3D-Kameras im OP. Robotik- bzw. KI-gestützte Systeme in der Medizin ermöglichen gerade bei minimal-invasiven Eingriffen eine noch schonendere und präzisere Schnittführung.

Überwachung chronischer Krankheiten

In Form von Fitnesstrackern haben tragbare Kleincomputer mit Sensorik-Systemen längst Einzug in den Alltag gehalten. Diese Form von KI in der Medizin könnte in Zukunft aber auch die Kontrolle chronischer Krankheiten erleichtern. Zur Behandlung von Diabetes mellitus sind beispielsweise schon heute Closed-Loop-Systeme verfügbar, die über einen Sensor kontinuierlich den Glukosewert im Unterhautfettgewebe messen und die Insulingabe über eine Insulinpumpe automatisch anpassen.

Krankenhausdatenmanagement

In den meisten Krankenhäusern werden Tag für Tag riesige Datenmengen produziert. Um diese Daten effizienter zu verwalten und dort zur Verfügung zu stellen, wo sie gebraucht werden, könnte KI in der Medizinbranche in Zukunft verstärkt genutzt werden.

Welche Chancen bietet KI in der Medizin?

Die Ergebnisse von KI-Anwendungen in Bereichen wie der Bildinterpretation oder der Quantifizierung von Biomarkern sind schon heute überzeugend. Gerade Tätigkeiten, die für Menschen intellektuell wenig herausfordernd, aber zeitaufwendig und eintönig sind, lassen sich durch KI-Anwendungen effizienter und oft auch zuverlässiger erledigen. Denn anders als menschliche Gehirne ermüden KI-Systeme nicht und machen keine Flüchtigkeitsfehler.

Eine wichtige Voraussetzung für den ethisch vertretbaren Einsatz von KI in der Medizin ist: Es muss jederzeit nachvollziehbar sein, wie das KI-System zu seiner Entscheidung gekommen ist. Denn auch Künstliche Intelligenz ist nicht unfehlbar. Gerade im medizinischen Kontext könnten Fehlentscheidungen aber schwerwiegende Konsequenzen haben. Aus diesem Grund werden KI-Anwendungen heute in aller Regel als „Second Opinion“ eingesetzt, die Letztentscheidung verbleibt immer beim Arzt oder der Ärztin.

Mythen zum Einsatz von KI – Was ist dran?

Veränderungen gehen häufig mit Ablehnung, Ängsten und daraus resultierenden Mythen einher. Nachfolgend eine Einordnung der häufigsten Mythen im Zusammenhang mit dem Einsatz von KI in der Medizin.

Mythos: KI wird in naher Zukunft medizinisches Personal ersetzen

KI wird in der Medizin zwar künftig bestimmte Tätigkeiten übernehmen, die bisher Menschen ausgeführt haben. Dadurch wird medizinisches Fachpersonal jedoch nicht ersetzt, lediglich die Aufgabenbereiche können sich verändern. Medizinische Einrichtungen werden in Zukunft etwa mehr SpezialistInnen brauchen, die KI-Anwendungen entwickeln oder bedienen können. Der persönliche Kontakt zu PatientInnen lässt sich prinzipiell jedoch nicht durch Maschinen ersetzen.

Zu bedenken ist auch: Viele Bereiche der Medizin und Pflege leiden bereits heute unter einem erheblichen Personalmangel, der sich durch die demographische Entwicklung noch verstärken wird. Die Unterstützung durch KI-Systeme kann unter diesen Voraussetzungen dazu beitragen, weiterhin eine hochwertige medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten.

Mythos: Schon heute werden in Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen Entscheidungen von KI getroffen

Medizinische Entscheidungen werden in Krankenhäusern jetzt und vermutlich auch in Zukunft ausschließlich von Menschen getroffen. KI-Systeme können zwar Diagnosen und eventuell auch Behandlungen vorschlagen. Diese Vorschläge werden aber immer von ÄrztInnen geprüft, die den gesamten medizinischen Kontext kennen.

Mythos: KI in der Medizin könnte sich der menschlichen Kontrolle entziehen

Richtig ist: KI kann mitunter zu Ergebnissen kommen, die für ihre EntwicklerInnen so nicht vorhersehbar waren. Sie kann sich jedoch nicht der menschlichen Kontrolle entziehen und hat auch keine eigenen Intentionen oder Ziele. Wichtige medizinische Entscheidungen werden in Kliniken auch weiterhin ausschließlich menschliche ExpertInnen auf Basis ihres Wissens und ihrer Erfahrung treffen. KI ist in der Medizin nur ein Werkzeug unter mehreren.

Mythos: Nur große Kliniken werden sich hochspezialisierte medizinische KI-Lösungen leisten können

Ausgereifte KI-basierte Systeme ermöglichen es, medizinische Leistungen bei gleichbleibender oder verbesserter Qualität effizienter und ressourcensparender anzubieten. Ihr Einsatz kann daher auch kleineren medizinischen Einrichtungen helfen, ökonomisch rentabel zu wirtschaften und gegenüber anderen Einrichtungen konkurrenzfähig zu bleiben.

Mythos: KI ist unfehlbar

KI-Systeme sind nur so gut wie ihre Datenbasis und die Algorithmen, mit denen sie trainiert wurden. Sie können auch zu falschen Schlüssen kommen, insbesondere dann, wenn ihre Datenbasis Verzerrungen (Biases) enthält. Deshalb ist es wichtig, dass geschulte ExpertInnen den Einsatz von KI-Anwendungen überwachen und die Letztverantwortung für medizinische Entscheidungen tragen. Mithilfe des ärztlichen Feedbacks können die Algorithmen weiter verfeinert und verbessert werden, sodass die KI zu einem kontinuierlich lernenden System wird.

Andererseits lassen sich durch den Einsatz von KI aber typisch menschliche Fehlerquellen wie Flüchtigkeitsfehler durch Übermüdung reduzieren. Zudem kann KI unerfahrene ÄrztInnen bei der Diagnosestellung unterstützen. Dadurch trägt der Einsatz von KI in der Medizin wesentlich zur Qualitätssicherung bei.

Mythos: Es ist nicht nachvollziehbar, wie KI-Anwendungen zu ihren Entscheidungen kommen

Zu den Anfangszeiten der KI-Forschung war das teilweise zutreffend: Insbesondere künstliche neuronale Netze verhielten sich oft wie eine Black Box, und auch ihre EntwicklerInnen konnten Entscheidungen nicht immer nachvollziehen. Für moderne, ausgereifte KI-Anwendungen gilt dies jedoch nicht. Heute werden diese KI-Systeme – insbesondere für den Einsatz in der Medizin – so konstruiert, dass der Lösungsweg für ExpertInnen nachvollziehbar bleibt.

Mythos: Bei der Nutzung von KI in der Medizin kann es zu Datenschutz-Verletzungen kommen

Die Entwicklung und Nutzung von KI in der Medizin ist nur auf der Basis von Big Data möglich. Dabei handelt es sich grundsätzlich um sensible personenbezogene Daten, die durch Datenschutz-Gesetze wie der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) oder dem US-amerikanischen Healthcare Insurance Portability and Accountability Act (HIPAA) einem besonderen Schutz unterliegen. Eine datenschutzkonforme Nutzung dieser personenbezogenen Daten zur KI-Entwicklung ist aber möglich, wenn die Daten so anonymisiert oder pseudonymisiert werden, dass eine Identifizierung konkreter Personen nicht mehr möglich ist.

Bei der Anwendung von KI in der Medizin muss in der Regel die explizite Einwilligung von PatientInnen eingeholt werden. Wichtig ist: Gesundheitseinrichtungen, die KI-Systeme nutzen, müssen künftig verstärkt auf ihre Datensicherheit achten. Denn durch unberechtigte Zugriffe wie Hackerangriffe könnte es zu Datenschutz-Verletzungen kommen.

KI als Chance für eine leistungsfähige und patientenzentrierte Medizin der Zukunft

Viele Mythen, die über den Einsatz von KI in der Medizin im Umlauf sind, sind die Folge falscher oder veralteter Information, manchmal auch unrealistischer Erwartungen. Künstliche Intelligenz kann das Fachwissen und die Erfahrung medizinischer ExpertInnen nicht ersetzen. Sie ist aber ein Hilfsmittel, um medizinisches Personal vor allem von zeitraubenden Routinetätigkeiten zu entlasten, große Datenbestände effektiver zu analysieren und ÄrztInnen bei Diagnose- und Therapieentscheidungen mit einer Zweitmeinung zur Seite zu stehen. Dadurch kann KI auch in Zukunft eine patientenzentrierte, hochwertige medizinische Versorgung gewährleisten. Die persönliche Zuwendung zu PatientInnen, kreatives Denken und das holistische Erfassen von Zusammenhängen werden jedoch immer die Domäne menschlicher Intelligenz bleiben.